Grenzwert-Strategie
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eine Halbierung des cW-Wertes erscheint möglich
Um die Fahrzeugaerodynamik
ist es in letzter Zeit ganz still geworden. Nur die Windgeräusche
lassen noch von sich hören, all den schönen Akustikwindkanälen
zum Trotz. Dabei ist es doch gar nicht lange her, dass die Aerodynamik
hoher Aufmerksamkeit gewiss sein konnte - nicht zuletzt wegen der immer
wieder einmal aufbrechenden Kontroverse mit dem Design. Und heute? Funkstille!
Ist das Potenzial der Aerodynamik erschöpft? Nicht nur die Diskussion
um den Klimaschutz verlangt eine Antwort.
Stand der Technik
In der Tat: Misst man den Fortschritt in der Aerodynamik an Ihrer „Leitgröße“,
dem Widerstandsbeiwert cW, dann scheint absoluter Stillstand zu herrschen.
Nachdem, wie Bild
1 zeigt, sein Wert in Folge zweier Ölkrisen zügig
abnahm, stagniert er seit etwa 10 Jahren – und das bei allen Pkw-Herstellern
annähernd gleich. Ja, es drängt sich einem der Eindruck auf,
als bestehe für Pkw eine magische Grenze, als sei cW = 0,25 nicht
zu unterbieten – eine Asymptote, wie der Mathematiker sagt.
Dieses Sättigungsphänomen ist das Spiegelbild der technischen
Entwicklung. Die Möglichkeiten, die Strömung durch Optimierung
einzelner Formdetails – wie z.B. der Höhe des Kofferraumdeckels
oder der Länge des Hecks – zu verbessern und damit dem cW-Wert
ein paar „dragcounts“ (ΔcW = 0,001) abzuringen, scheinen
weitgehend ausgereizt zu sein. Das mit der Folge, dass die Verbesserungen
im cW-Wert von einer Modellgeneration zur nächsten immer kleiner
werden. Mitunter gar so klein, dass damit die Zunahme der Stirnfläche
nicht mehr kompensiert werden kann. Das Produkt aus cW-Wert und Stirnfläche,
die maßgebliche Größe für den Luftwiderstand, nimmt
dann absolut zu.
Interesse am cW-Wert erlahmt?
Mit dem, was folgt, wird der Versuch unternommen, dem Bemühen um
die Senkung des Luftwiderstandes neue Anstöße zu geben. Bekanntlich
ist der cW-Wert kein Selbstzweck. Er dient vielmehr ausschließlich
der Steigerung der Fahrleistungen. Bei diesen geht es primär um Verbrauch
und Emissionen; die Höchstgeschwindigkeit tritt dagegen in den Hintergrund
– oder sollte es zumindest. Welcher zahlenmäßige Zusammenhang
zwischen dem cW-Wert und dem Verbrauch besteht, darauf wird am Schluss
des Beitrags näher eingegangen.
Zwei mögliche Wege zum Ziel
Die Aerodynamiker sollten sich jedoch von der gegenwärtigen Stagnation
nicht entmutigen lassen. Zwei Wege stehen ihnen offen, auf denen sie wieder
ins Geschäft kommen können:
Entweder: Noch einmal bei „Null“ anfangen, nach Körpern
niedrigen Widerstandes fahnden und an diesen den Prozess der Formoptimierung
wiederholen. Derartige Versuche sind immer wieder einmal unternommen worden,
auch mit Erfolg. Ihr Nachteil ist, ihre Resultate sind von der Kategorie
des „alles oder nichts“. Die Formen, auf die man dabei kommt,
weichen von den herkömmlichen ab und lassen sich nicht so leicht
durchsetzen.
Oder: Analyse der strömungsmechanischen Phänomene beim derzeitigen
Stand der Technik; aufspüren von Verbesserungspotenzial, erneute
Betrachtung an sich bekannter Effekte, die bisher nicht oder nicht konsequent
ausgenutzt worden sind. Allein dieser Weg ist erfolgversprechend.
Wie in Bild
2 markiert: Vier Regionen am Pkw bieten sich für Verbesserungen
an:
- das Heck,
- die Unterseite,
samt Rädern und Fahrwerk,
- die Kühlluftführung,
- die A-Säulen
und die Rückspiegel.
Bei der Erschließung
dieses Potenzials soll in zwei Schritten vorgegangen werden: Im ersten
geht es darum, den aerodynamisch erzielbaren Grenzwert zu markieren. Das
ist der „Gewinn“ ΔcW aero, der sich ohne Rücksicht
auf die spätere fahrzeugtechnische Realisierung erzielen lässt.
Im zweiten Schritt wird nach Möglichkeiten gesucht, mit denen man
bei Beachtung des gegebenen technischen Rahmens diesem Grenzwert möglichst
nahe kommen kann; dieses Ergebnis wird mit ΔcW real bezeichnet. Dabei
sollte man sich die Freiheit herausnehmen, den technischen Rahmen zu hinterfragen
und, wenn nötig und möglich, auch zu sprengen.
Wie nach der Grenzwert-Strategie vorzugehen ist, soll am Beispiel des
Hecks demonstriert werden; dort ist auch das meiste zu holen. Erstaunen
mag, dass gerade das Vollheck, diejenige Form, die am wenigsten „aerodynamisch“
aussieht, die besten Möglichkeiten bietet.
Am Vollheck löst die Strömung an dessen ganzen Umfang ab; es
bildet sich ein sogenanntes Totwasser. In diesem rotiert ein stabiler
Ringwirbel, und der wiederum induziert auf der Heckfläche, auch Basis
genannt, einen Unterdruck. Der wiederum ist zu einem Gutteil für
den Widerstand verantwortlich.
Die Bildung dieses Ringwirbels lässt sich vollkommen vermeiden, wenn
man, wie rechts unten in Bild
3 gezeichnet, das Heck nach hinten spitz auslaufen lässt,
gerade so weit, dass keine Ablösung auftritt. Dabei entsteht ein
Heckkörper, der etwa dreimal so lang ist wie der (äquivalente)
Durchmesser der Basis. Schon 1965 konnte der englische Professor Mair
nachweisen, dass sich Dank des damit realisierten Druckrückgewinns
der Widerstand um ΔcW aer = 0,100 reduzieren lässt, im Extremfall
sogar bis ΔcW aer = 0,130. Soweit Schritt eins.
Die Frage ist nun, Schritt zwei, wie weit man sich diesem „idealen“
Wert annähern kann, ohne diese extreme, völlig unakzeptable
Hecklänge in Kauf nehmen zu müssen? Dabei wird sofort klar,
dass die anderen in Bild 3 gezeigten Maßnahmen für Fahrzeuge
nicht geeignet sind. Welche technischen Möglichkeiten bestehen, ist
in Bild
4 skizziert.
Seit langem bekannt ist die Attika, ein Hilfsmittel aus dem Bauwesen,
mit dem sich der Ringwirbel von der Basis des Körpers weg stromabwärts
verschieben lässt. Damit nimmt der von ihm auf der Basis induzierte
Unterdruck ab; der Widerstand wird kleiner. Um bis zu 10% wurde berichtet,
je nach Länge der Leitflächen. Diese lassen sich auch weiter
einwärts montieren. Dadurch entsteht zusätzlich eine umlaufende,
rückspringende Stufe. Das offenbar mit der Wirkung, dass sich das
Totwasser einschnürt und dadurch einen Druckanstieg erfährt.
Mit dieser Vorrichtung wurde ein Widerstandsgewinn von ΔcW = 0,060 erzielt.
Das ist rund die Hälfte dessen, was Mair mit dem „idealen“,
spitz auslaufenden Heck nachgewiesen hat.
Dem gleichen Effekt dient das nach innen Neigen der Leitflächen.
An Bussen und Lkw haben derartige Vorrichtungen eine Absenkung des Widerstandes
um bis zu 10% gebracht. Immer wieder einmal im Fahrbetrieb erprobt, wurde
ihre Anwendung jedoch regelmäßig verworfen. Die „betrieblichen“
Nachteile haben nach Meinung der Spediteure die Ersparnis an Kraftstoff
nicht aufgewogen.
Schließlich haben Professor Morelli und der FIAT-Ingenieur Di Giusto
1999 das Totwasser eines kompakten Pkw „aktiv“ beeinflusst.
Mit einwärts gebogenen Flächen wurde die Strömung zu einem
„Strömungsschwanz“ gebündelt, den sie „Fluid
Tail“ nannten. Der Nachlauf der Hinterräder wurde mit Luft
aufgefüllt, die von den als Radialgebläse ausgeführten
Hinterrädern gefördert wurde. Im Windkanal wurde an einem dieserart
ausstaffierten FIAT Punto eine Widerstandsminderung von ΔcW/cW =
18% gemessen. In Bild
5 ist der Versuchsträger abgelichtet.
Nach der gleichen Strategie werden die anderen Regionen bearbeitet. Bei
diesen ergibt sich der jeweilige „Idealwert“ so:
- Das Ideal des
Unterbodens bildet die ebene Platte; nach und nach sind die Unterböden
der Pkw glatter geworden, aber „vollkommen“ glatt sind sie
noch lange nicht.
- Der Kühlluftwiderstand
wird zu Null, wenn man den Einlass für die Kühlluft schließt.
Mit einer Jalousie lässt man, je nach Motorleistung, gerade soviel
Luft durch, wie zum Kühlen benötigt wird. Das ist bei einigen
Fahrzeugen bereits in der Serie.
- Der Widerstand
der Außenspiegel lässt sich vollkommen vermeiden, wenn man
sie abschafft – und durch Videokamera(s) ersetzt.
Fazit
Welcher Beitrag von den einzelnen Maßnahmen zur Reduktion des Widerstandes
erwartet werden kann, ist in der Tabelle zusammengefasst. In der Spalte
mit dem Index „aero“ sind die Gewinne ΔcW aero aufgeführt,
die sich erreichen ließen, wenn man auf fahrzeugtechnische Belange
keine Rücksicht nimmt. Die Spalte „real“ zeigt, wie nah
man an diese Werte im konkreten Fall herankommen kann. Die Summation der
einzelnen Beiträge erfolgt mit dem Vorbehalt, dass über die
Wechselwirkung zwischen ihnen, wenig (oder nichts) bekannt ist.
Tabelle: Mögliche Maßnahmen zur Reduktion
des cW-Wertes bei einem Vollheck-Pkw.
Maßnahmen
am |
ΔcW
aero |
ΔcW
real |
Heck |
0,100 |
0,060 |
Chassis glatte
Unterseite |
0,030 |
0,015 |
Chassis Heckdiffusor |
0,025 |
0,025 |
Chassis Räder |
0,025 |
0,020 |
Kühler |
0,020 |
0,020 |
A-Säule
& Spiegel |
0,010 |
0,010 |
Summe
ΣΔcW |
0,210 |
0,150 |
Man sieht, der cW-Wert
lässt sich um den Betrag ΔcW = 0,150 senken. Geht man davon
aus, dass ein Vollheck heutzutage mit cW = 0,320 auf die Straße
kommt (das ist der Wert des VW Golf V), dann ergibt sich durch die beschriebenen
Maßnahmen ein Wert von cW = 0,170; das entspricht einer Reduzierung
um 47%.
Zuviel des Optimismus? Angesichts von cW = 0,190, einem Wert, der unlängst
für einen Prototypen mitgeteilt wurde, dessen Form mit Hilfe der
Bionik abgeleitet wor-den ist, ist diese Zahl keineswegs utopisch.
Epilog
Eine Binsenweisheit: Der cW-Wert ist kein Selbstzweck. Die Bemühungen
um seine Minimierung dienen primär dem Zweck, den Verbrauch (und
damit die Emissionen) zu senken. Der im Prospekt anzugebende Verbrauch
wird nach einer in Europa einheitlichen Vorschrift ermittelt. Dazu muss
das Fahrzeug auf dem Rollenprüfstand einen vorgeschriebenen Zyklus
fahren, den „Neuen Europäischen Fahrzyklus“ (NEFZ). Nach
einer Faustformel führt in diesem eine 10%ige Reduktion des Luftwiderstandes
zu einem Minderverbrauch von 2,5%. Im diskutierten Beispiel geht es also
insgesamt um eine Verbrauchssenkung von rund 12%. In der Praxis dürften
das jedoch ein paar Prozent mehr sein, denn mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit
von etwa 33 km/h ist der NEFZ ein echter Zuckeltrab. Niemand ist so langsam
unterwegs. Gegenüber dem zuvor gebräuchlichen inoffiziellen
„Drittelmix“ – dessen Zyklus war mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit
von 76 km/h mehr als doppelt so schnell – ist der Einfluss des cW-Wertes
auf den Verbrauch glatt halbiert worden. Kein Wunder, dass er dadurch
zu einem weniger harten Ziel geworden ist.
WHH 18.3.2008
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